Samstag, 18. September 2010

Wenn Papier die Pickel kriegt

Da ich immer weniger sehen kann und nicht mal mehr erkenne, OB überhaupt auf dem Papier was geschrieben steht, habe ich schon länger überlegt, die Punktschrift zu erlernen. Ich habe dies mal in der Schule als „Wahlpflichtfach“ gehabt. Auch habe ich mal mit einem Bekannten zwischendurch versucht, das zu erlernen. Aber in der Schule war ich, wie immer, wenn es um Arbeit mit den Händen geht, die Schlechteste, alle anderen haben mit den Augen gelesen und die Lehrerin ausgetrickst. Ich habe ohne Hand mit den Augen gelesen, und wunderte mich, warum die Lehrerin bei mir das ermahnt, während sie die anderen lässt. Daß die allerdings zumindest so taten, als würden sie mit dem Finger tasten, hab ich gar nicht gecheckt. Ich habe, da ich einen enorm schnellen Lesefluß hatte, die Punktschrift weit von mir geschoben. Ich dachte mir immer, warum soll ich mich mit so etwas quälen, wenn ich doch mit Schwarzschrift viel schneller vom Fleck komme? Als ich dann nochmal mit einem blinden Bekannten einen neuen Anlauf nahm, schlief ich fast nach dem dritten Wort und einer Viertelseite ein. Auch wiederum dachte ich mir, wenn ich jetzt einfach ein normal gedrucktes Buch nehme, bin ich viel schneller. Daß ich die Punktschrift nicht lernen wollte, wurde immer darauf geschoben, dass man die drohende Erblindung verdrängen würde, und dass die Punktschrift einem die Doppelbotschaft einerseits einer Schrift und andererseits des Themas „Blindheit“ bringen würde. Ich habe aber probleme mit der Feinmotorik und der Sensibilität der Fingerspitzen und spiele außerdem Gitarre, so dass ich immer eine kleine Hornhaut auf den Fingerkuppen habe, wo sich die Saiten eingedrückt haben.

Die Frage, WANN man anfängt, die Punktschrift zu erlernen, wird viel und widersprüchlich diskutiert. Die meisten sagen, es sei sinnvoll, so bald wie möglich damit anzufangen, damit man sie bereits kann, wenn man blind wird. Ich hingegen wusste immer, solange ich noch normal lesen kann, habe ich keinerlei Motivation dazu, und sobald der Leidensdruck groß genug war, würde ich von selbst damit beginnen, wie das bei mir immer der Fall ist, wenn ich von etwas genug habe, oder das innere Bedürfnis danach von selbst wächst. Als ich damals in den USA war, traf ich dort einen promovierten PC-Spezialisten, der nur mit der Sprachausgabe arbeitet, und das tröstete mich, dass, wenn ich wirklich mal ganz blind würde und keine Punktschrift erlernen könnte, ich dann aber doch nicht ganz verloren sein würde. Ich schaffte mir nun nach und nach sämtliche Geräte an, die sprechen können. Meine Sehkraft ließ ja allmählich nach, und so benutzte ich erst nur für längeres Lesen eine Lesekamera, die man an einen normalen Fernsehbildschirm anschließen konnte, wobei man mit einer Maus über das Lesegut fuhr. Da ein Kabel vom Fernseher zur Maus ging, welches durch das Hin- und Herfahren immer hin- und herschwang, benutzten meine damaligen Katzen Lissy und Jakob (,der immer noch da ist) dieses Kabel zum Seilspringen. Lissy legte sich immer auf mein Buch, damit ich die Maus nicht weiterführen konnte, da sie meine Aufmerksamkeit für sich und nicht für mein Buch haben wollte. Als dieses Gerät dann kaputt ging, wobei durch ein Problem am Elektroanschluß die gesamte Fernsehanlage samt DVD-Player unter Strom stand, warf ich es sogleich in den Abfall. Ich merkte, dass ich auch für kürzere Sachen immer öfter ein Lesegerät brauchte. Von der Schriftgröße her war es nie ein Problem, aber der Kontrast ließ immer mehr nach, und so stelle ich den Bildschirm immer auf Negativdarstellung (Weiß auf Schwarz). Durch die Dialyse bin ich körperlich erstens so angestrengt, und zweitens flimmern mir zuweilen die Augen so stark, dass ich nur noch ein paar Sätze oder einen kurzen Brief am Lesegerät lesen kann. Ich habe schon immer die Leute bewundert, die Punktschrift lesen können.

Neulich hörte ich dann auf der Info-CD der DZB Leipzig einen Live-Mitschnitt, bei dem die Sozialministerin von Sachsen anlässlich des Tages des Buches am 21. April der Blindenschule ein Exemplar des von mehreren Autoren kostenlos verfassten Lesebuches „ „Ich schenk Dir eine Geschichte“ übergab. Eine Schülerin, die es in Empfang nahm, las ein paar Auszüge aus einer Geschichte. Da machte irgend etwas Klick bei mir, und ich dachte, jetzt oder nie. Ich schrieb an die DZB zu Leipzig und bat um ein Exemplar in Vollschrift. Die Kurzschrift besteht aus einzelnen Wortkürzeln und Sonderzeichen, die ich noch nicht kann. Bisher war ich nur in der Lage, die Namen der Medikamente zu lesen und diese so zu unterscheiden. Ich hatte einmal begonnen, meine CDs mit Punktschrift zu markieren. Aber das Problem bestand darin, dass ich das Dymoband, auf das die Punkte geprägt wurden, nicht von seiner Folie abziehen konnte, um die klebrige Seite freizuknibbeln. Andere Kärtchen oder Rollen waren vom Papier her zu dünn. Auch hatte ich da noch keine Punktschriftmaschine. Wegen meiner motorischen Ungeschicklichkeit kann ich nur mit einem Perkins-Brailler umgehen, der „unkaputtbar“ ist, und bei dem man das Papier sehr einfach einspannen kann und nicht erst sehen (oder tasten) muß, dass die Metallschiene aufgeklappt und das Papier auf der Gummierung aufgelegt ist, wie das bei der Picht oder anderen Maschinen der Fall ist, die wesentlich filigraner zu handhaben sind. Ein Perkins-Brailler ist aber sehr teuer, und der Aufsatz für ein Dymoband muß auch noch zusätzlich angeschafft werden. Daher markierte ich den Rest meiner Tonträger und anderen Medien sowie Lebensmittelbüchsen mit einem RFID-Tag (radio frequency identification), wobei man dann den Namen auf ein Gerät aufspricht, und wenn man mit dem Gerät vorbeikommt, sagt es, was drauf ist.

Ich bin schon länger Nutzerin zahlreicher Blindenhörbüchereien und habe, da ich an der Dialyse viel Zeit habe, sieben verschiedene Zeitschriften abonniert, die ich über den gesamten Monat verteilt und als Wochenzeitschrift erhalte. Dazu kommen noch die Info-CDs der einzelnen Hörbüchereien und die Info-CD des deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes. Ich bekam schon wunde Ohren, weil ich nur noch hörte, und ich konnte mir auch bestimmte Sachen wie Namen etc. nicht mehr merken, da ich sie nie geschrieben sah. Auch weiß man dann nie, wie ein Eigenname geschrieben wird. Ich wollte einfach mal wieder das haptische Erlebnis eines Buches in der Hand haben und mir mal wieder den Inhalt eines Textes aktiv erschließen können.

Nun erhielt ich also dieses zweibändige Kinderbuch und dachte, ein Kindertext ist sicher erst mal einfacher als ein Text für Erwachsene. Zunächst mal musste ich mich aber durch sämtliche bibliographischen Angaben und Verlagserklärungen etc. durcharbeiten, um zum Haupttext zu gelangen. Zunächst brauchte ich eine Stunde pro Seite. Einige Zeichen waren mir nicht mehr präsent, oder ich hatte sie nie gelernt. Aus dem Kontext aber konnte ich die meisten Zeichen wie ÄU, EU, Ä, Ü oder SCH gut erschließen, besonders dann, wenn ich wusste, was da stehen sollte. Nach einer Weile brauchte ich dann nur noch 30 Minuten pro Seite. Ich stöpselte alles zusammen wie ein ABC-Schütze. Ich habe niemals wirklich bewusst Lesen gelernt, sondern ich konnte es einfach, und somit ist mir dieser Prozeß, mir alles so mühsam zusammenzuklabustern total fremd und fast schon unwürdig. Da ich aber aufgrund meines stark eingeschränkten Gesichtsfeldes schon immer darauf trainiert bin, mir nach drei Buchstaben den Rest des Wortes sofort zu erschließen und dann zum nächsten Wort zu springen, konnte ich mir aus dem Kontext - auch durch viel Leseerfahrung – schnell die Wörter zusammenreimen, musste aber aufpassen, dass ich nicht zu dichten anfing. Nach einer Weile brauchte ich nur noch 15 Minuten pro Seite. Dann waren es 12, 11, und am Ende nur noch 8. Aber jetzt sind es manchmal wieder 11 oder 12. Ich versuche immer, laut zu lesen und auch so schnell wie möglich. Dabei muß ich aufpassen, dass ich mir nicht zuviel Druck mache und das Lesen auch noch genießen kann. Es ist weniger anstrengend als den Kopf vor ein Lesegerät zu halten, wobei es auch noch dauernd vor den Augen flimmert, und es ist sehr angenehm, mal wieder einfach ein Buch in der Hand zu haben und sich zum Lesen zurückzuziehen, wie ich es als Kind bis ins junge Erwachsenenalter so sehr genossen habe. Mein Kater legt sich aber immer auf das Buch, weil ich ihm jetzt weniger Aufmerksamkeit widmen kann. Da sein Kumpel vor einiger Zeit weggelaufen ist, ist er nun noch wesentlich anhänglicher geworden. Einen ordentlichen Lesefluß werde ichwohl nie hinbringen. Ich werde jetzt noch diesen Band fertiglesen und dann die Kurzschrift angehen. In einen Punktschriftkurs bringen mich keine 10 Pferde, denn da wäre ich wieder nur die Schwächste und würde mich zwangsläufig immer mit den anderen Teilnehmern messen. Diese Erfahrung habe ich zu oft gemacht und wurstele lieber alleine vor mich hin, denn ich lese ja für mich. Je mehr ich mich mit der Materie beschäftige, umso mehr bewundere ich die Leute, die flüssig lesen können. Da gibt es diesen Herren Unglaub, der sogar im Radio liest und sogar Hörbücher aufliest. Dieser Mensch hat meine vollste und aufrichtigste Bewunderung.

Ich habe nur wieder Angst, dass ich am Ende auch wieder aufgeben muß, und dass ich am Ende wieder – wie so oft — einfach scheitere und dann wieder so schlecht bin wie am Anfang, das Üben dann wieder mal nichts bringt, meine Grenzenwieder zu fest sind, und ich mich wieder mal damit abfinden muß, dass ich nicht weiter komme als das, was meine körperlichen Möglichkeiten mir zuweisen. Zu oft habe ich nun diese Erfahrung gemacht, und zu selten habe ich mal ein Erfolgserlebnis erfahren und gesehen, dass ich auch noch was verbessern kann.

Als ich neulich beim Einkaufen war, konnte ich kaum meinen Einkaufszettel lesen. Auch ist es unpraktisch, wenn man mit anderen unterwegs ist, alles auf ein Diktiergerät zu sprechen. Ich gab der Verkäuferin den Zettel, aber die konnte es auch kaum entziffern. Sie meinte, sie habe eine andere blinde Kundin, und die würde sich immer einen Punktschriftzettel machen. Nun überlegte ich: Tafel und Griffel sind umständlich, denn damit die Punkte vorne als erhaben herauskommen, muß man von hinten mit diesem Griffel ins Papier reinstechen. Damit es aber richtig herum vorne herauskommt, muß man in Spiegelschrift schreiben. Da ich ja erst ganz neu mit der Punktschrift arbeite, wäre mir das etwas zu komplex, obwohl ich Spiegelverkehrt denken kann. Aber sonst würde ich eventuell zuviel durcheinanderbringen, wo ich mit einigen Zeichen, die spiegelverkehrt etwas anderes bedeuten, sonst durcheinander kommen würde. In der Zeitschrift „die Gegenwart“, der Verbandszeitschrift des DBSV, hörte ich, dass einer seine Perkins verkaufen wollte. Ich rief sofort an. Da diese Maschine neu 900 Euro kostet, wollte er sie nicht unter 400 Euro verkaufen. Ich rief daheim bei meinen Eltern an und fragte, ob ich die Maschine zu Weihnachten kriegen würde. Meine Eltern sagten sofort zu. Ich meldete mich bei dem Mann, und er mußte erst noch warten, bis die anderen, die sich vor mir gemeldet hatten, nochmal anriefen, wenn nicht, würde ich die Maschine kriegen. Die anderen riefen nicht an, was ich nach etwas bangem Warten dann zu hören bekam. So freute ich mich sehr. Sobald er das Geld auf dem Konto hat, ist das gute Stück dann mein. Da ich auch auf meinen Geräten nicht mehr lesen kann, welche Funktion an welcher Stelle ist, werde ich diese Geräte nun mit Dymoband beschriften. Ich muß also diesen Aufsatz für nochmals 50 Euro kaufen. Wenn ein Sehender dabei ist, dann kann der mir ja das Dymoband abknibbeln. Zum Beispiel habe ich einen Toaster mit drei Tasten: eine für Stop, eine für Brötchen aufbacken und eine für Auftauen. Da ich mir die Reihenfolge wegn meines zusätzlich schlechten Gedächtnisses nicht merken kann, muß ich mir diese Tasten beschriften. A wird dann für Auftauen und B für Brötchen aufbacken stehen. Meine Waschmaschine ist bereits mit Gummistreifen beschriftet, zumindest bei 40°C Mini und bei 30°C Handwäsche. Da ich mir nicht merken konnte, welcher Streifen nun für 40 und welcher für 30 Grad war, sagte der LPF-Lehrer vom Blindenbund: „40 Grad ist höher, also oben und 30 Grad ist weniger also unten.“ Die Gradzahlen auf der rechten Seite kann ich ja abzählen: 90, 70, 60, 40, und damit gibt es keine Probleme. Beim Backofen muß dann bei jedem 50-Grad-Schritt ein Punkt stehen. Bisher stelle ich den Ofen einfach nach Gefühl ein, da ungefähr ist die 200, und beim Aufbacken von Fertigsachen wie Pizza etc., geht das auch ganz gut. Aber bei der Spülmaschine kann ich mir nie merken, wo die 50° für Ökospülen und die 70° für Intensivspülen sind. Da kann dann auch ein Dymoband hin.

Wenn ich die Punktschrift nicht lerne, dann wäre ich bald eine funktionelle Analphabetin. Dieses Schicksal will ich mir ersparen. Vor einigen Jahren habe ich nachts noch geträumt, ich hätte ganz laut geschrien: „ICH HASSE LOUIS BRAILLE!“ Ich hoffe, ich kann irgendwann doch mal sagen: „Danke, Herr Louis Braille.“